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Dienstag, 24. September 2013

2013-09-23 Bundestagswahl 2013, eine Nachlese


Merkel triumphiert, FDP stürzt ab

Union kratzt an absoluter Mehrheit. FDP erstmals nicht im Bundestag. Rot-Grün verpasst Wahlziel klar

Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Höhepunkt ihrer Macht: Ihre Union hatte am Wahlabend sogar eine hauchdünne absolute Mehrheit der Bundestagsmandate in Sichtweite.
Die seit vier Jahren regierende schwarz-gelbe Koalition wurde abgewählt, weil die FDP nach einem historischen Desaster erstmals in ihrer Geschichte aus dem Bundestag flog. Ein Unsicherheitsfaktor in den Hochrechnungen blieb die eurokritische Partei Alternative für Deutschland (AfD). Sie verbuchte einen Überraschungserfolg dicht an der Fünf-Prozent-Marke.
Merkel hat jetzt alle Karten in der Hand – nach den Hochrechnungen wären eine Große Koalition mit der SPD oder Schwarz-Grün möglich. Die SPD mit Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und die Grünen mit dem Duo Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin verfehlten ihr Wahlziel Rot-Grün um Längen.
Die Alleinregierung der CDU/CSU wurde nach übereinstimmenden Hochrechnungen von ARD und ZDF vom späten Abend offenbar nur knapp verpasst. Im Bund erreichte bisher nur die Union einmal eine absolute Mehrheit: 1957 stimmten 50,2 Prozent für die Partei von Kanzler Konrad Adenauer.
Die FDP blieb mit dem schwächsten Ergebnis ihrer Geschichte unter der Fünf-Prozent-Hürde. Die erst vor wenigen Monaten gegründete AfD hat den Zahlen von ARD und ZDF zufolge den Sprung in den Bundestag nur ganz knapp verpasst.
Die Union lag den ganzen Abend über praktisch gleichauf mit der Opposition aus SPD, Grünen und Linkspartei. SPD und Grüne hatten ein Zusammengehen mit der Linken im Wahlkampf strikt abgelehnt. Die Union will nicht mit der AfD kooperieren. Eine Große Koalition hatte zuletzt von 2005 bis 2009 unter Führung Merkels regiert und Deutschland durch die Wirtschafts- und Finanzkrise geführt.
Merkel sprach unter dem Jubel ihrer Anhänger von einem „Superergebnis“ und versicherte: „Wir werden damit verantwortungsvoll und sorgsam umgehen.“ SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich enttäuscht: „Ja, wir haben zugelegt, aber wir haben mehr erwartet, keine Frage“, sagte er und gratulierte der Union. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ergänzte: „Der Ball liegt im Spielfeld von Frau Merkel. Sie muss sich eine Mehrheit besorgen.“ CDU-Vorstandsmitglied Annegret Kramp-Karrenbauer schloss Verhandlungen mit den Grünen über eine mögliche Koalition nicht aus. Auch Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin lehnte solche Gespräche nicht grundsätzlich ab. „Aber die Wahrscheinlichkeit, dass dabei etwas rauskommt, halte ich nicht für besonders hoch“, sagte er.
Der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke sprach von einem „ganz starken Ergebnis“. In Zusammenhang mit der Euro-Rettung sprach Lucke von „Entartungen der Demokratie“.
FDP-Chef Philipp Rösler und Spitzenkandidat Rainer Brüderle übernahmen die politische Verantwortung für das Debakel ihrer Partei. Beide deuteten am Sonntagabend ihren Rücktritt an. Der nordrhein-westfälische FDP-Chef Christian Lindner verlangte eine Erneuerung seiner Partei.
Die Wahlbeteiligung lag bei über 72 Prozent – 2009 waren es noch 70,8 Prozent.


 

Merkel auf dem Gipfel ihrer Macht

Die Bundeskanzlerin fährt für die CDU das beste Wahlergebnis seit mehr als 20 Jahren ein.

Zu Beginn ihrer dritten Amtsperiode spielt sie in der Helmut-Kohl-Klasse

Von Miguel Sanches Berlin. Sie ballen die Faust, singen, hüpfen. Wie in der Südkurve. Aus der Tiefe des Raums kommt der Ruf: „Oh, wie ist das schön, so was hat man lange nicht erlebt, so schön“. Berlin, Konrad-Adenauer-Haus, 18 Uhr: Schwarz-Gelb ist gerade ­doppelt abgewählt worden, im Bund wie in Hessen. Und die CDU? Sie feiert!
„Faszinierend, eine Riesen- ­Freude“, flötet CDU-Vizechefin Ursula von der Leyen. Sie zieht von TV-Team zu TV-Team, um neue Superlative ringend: „Das ist überragend.“ Oder: „Ich freue mich unglaublich.“ Die Frau strahlt. Es sei ein Ergebnis, „wie wir es seit Jahren nicht mehr erlebt haben“, sagt Armin Laschet, Chef der NRW-CDU.
Hinter den Kulissen: ungläubiges Staunen. Ein Insider erzählt uns, „da herrschte Ungewissheit, wir wussten nicht, was aus der FDP und was aus der AfD wird.“ So erklärt sich, dass CDU-Chefin Angela ­Merkel in ihrer ersten spontanen Reaktion nur über die CDU redet; und dass ihr nichts Gefühliges zur FDP einfällt, mit der sie vier Jahre regiert hat. Erst später, im Fern­sehen, in der Elefantenrunde, beteuert Merkel auf Nachfrage zum FDP-Debakel: „Ich bedaure das.“
Die Kanzlerin hatte die Prognose und die erste Hochrechnung abgewartet. Nach 45 Minuten, als ihr Sieg perfekt scheint, nimmt Merkel die drei Stufen, rauf auf die grau­drapierte Bühne. Sie trägt eine ­blaue Jacke zur schwarzen Hose. Vor der Bühne hat die CDU eine Gruppe junger Leute positioniert: Es ist das A-Team, es sind die Claqueure, die sangesfreudigen Fans in ihren orangefarbenen T-Shirts, die siegestrunken „Angie, Angie“ rufen.
Ein leichtes Lächeln umspielt Merkels Lippen. Von Sekunde zu Sekunde wird die Erleichterung größer, bis sie völlig entspannt lacht. Einen kleinen Seitenblick wirft sie ihrem Ehemann Joachim Sauer zu. Links von ihr, seitlich an der Wand, ihre Clique: Sauer, Büroleiterin ­Beate Baumann, Verteidigungs­minister Thomas de Maizière einen Schritt dahinter. Merkels Vizechefs stehen neben ihr auf der Bühne.
Merkel hat das beste Ergebnis der CDU seit über 20 Jahren einge­fahren. Jetzt, an der Schwelle zur dritten Amtsperiode, spielt sie in der Helmut-Kohl-Klasse. 2005 und 2009 hatte man ihr noch nachge­rufen, Merkel gewinne nur ­Umfragen, aber keine Wahlen. ­Dieses Mal löst Merkel ihren Amtsbonus ein. Über 42 Prozent.
„Auf dem Teppich bleiben“ Mit einer absoluten Mehrheit der Stimmen hatte sie nicht gerechnet. Und in Interviews war sie meist auch nicht danach gefragt worden. Sie vernimmt die Zahlen am Wahlabend, traut aber ihren Ohren nicht. Merkel will das amtliche Ender­gebnis abwarten, eine Nacht darüber schlafen. „Wir bleiben auf dem Teppich“, verspricht Gröhe.
Mit dem Ergebnis werde man „vertrauensvoll und sorgsam umgehen“, verspricht Merkel im Konrad-Adenauer-Haus. Nichts anderes wird sie später auch im Fernsehen sagen. Aus Respekt vor der FDP – zu dem Zeitpunkt noch im parlamentarischen Überlebenskampf – verrät sie nirgendwo ihre Pläne.
„Es ist zu früh, genau zu sagen, wie wir vorgehen aber freuen dürfen wir uns heute schon, denn wir ­haben es toll gemacht“, hatte die CDU-Chefin den Anhängern zugerufen. Die CDU-Spitze sitzt nicht geschlossen zusammen; immer steht gerade einer von ihnen im Fernsehen Rede und Antwort. Erst heute bietet sich die Chance, die Strategie im Lichte des Ergebnisses nüchtern zu beraten.
Wenn man die absolute Mehrheit der Stimmen verfehlt, ist eine Große Koalition kein Selbstläufer. Es gibt nach Informationen unserer ­Zeitung Politiker, die mit allen ­Parteien reden wollen. Auch mit den Grünen. In der „Elefantenrunde“ gratuliert der Grüne Jürgen Trittin ihr betont freundlich. Schmeißt der Mann sich schon ran? Die Alternative: Ein Rosenkrieg, zweiter Teil, (Bündnis mit der SPD) oder eine „Pizza Connection“?
Eine Große Koalition wäre plausibler. Es gab Signale – bis in die letzten Tage hinein. Letzte Kabinetts­sitzung am Mittwoch: Was beschließt man? Einen Mindestlohn (für Steinmetze), also eine Kern­forderung der SPD. Und im Wahlaufruf der CDU fand sich keine ­Kritik an einer Erhöhung des ­Spitzensteuersatzes – auch so eine SPD-Forderung. In Hessen wurde Schwarz-Gelb abgewählt – der ­Bundesrat ist jetzt in SPD-Hand.
Unten im Foyer des Adenauer-Hauses herrscht ein dichtes Gedränge, wie auf der Kirmes. Es gibt Wein, Sekt, Bier, ein Buffet, sogar einen Stand mit Zigaretten. Gut 1000 Menschen belagern die CDU, darunter Fernsehteams aus aller Welt. Und es gibt in der Tat was zu bestaunen: Merkels Erntedankfest.



Historische Niederlage für die FDP

Erstmals wird die Partei nicht mehr im Bundestag vertreten sein. Das Führungsduo Rösler und Brüderle deutet bereits den Rücktritt an. Die Basis sagt: „Jetzt muss etwas passieren“

Von Julia Emmrich Berlin. Es ist ein historischer Moment. Zum ersten Mal seit 1949 ist die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten. Bis zuletzt hatten die Liberalen auf das Mitleid der Unionswähler gesetzt und um Leihstimmen geradezu gebettelt. Doch die Rechnung ging nicht auf: Hauptsache weiterregieren – als Botschaft war das vielen zu wenig. Die Wähler bestraften die FDP mit dem schlechtesten Ergebnis in ihrer über 60-jährigen Geschichte.
„Es ist eine schwere Stunde für die FDP.“ Rainer Brüderle sieht müde aus, blass. Schmallippig reiht sich die FDP-Riege um den 68-Jährigen Spitzenkandidaten. Guido Westerwelles Miene ist versteinert. Mit ihm hatte die FDP bei der letzten Wahl das Dreifache geholt. Nun steht ein dreifacher Abschied an: Die FDP wird nicht mehr im Bundestag sein, Rainer Brüderle und Philipp Rösler deuten ihren Rücktritt an, die liberalen Minister verlieren ihre Ämter.
Sie haben damit gerechnet, dass es eng wird. „Wir halten die Taschentücher bereit“, witzeln die Anhänger der Liberalen noch am späten Nachmittag im Kongresszentrum am Berliner Alexanderplatz. Für die Wartenden gibt es Kartoffelsuppe, Merkels Lieblingsessen. Dass sie eine Henkersmahlzeit löffeln, können sie da noch nicht wissen. Aber sie ahnen es. Ungewohnt ernst steht der Komiker Dieter Hallervorden („Ich bin FDP-Sympathisant“) im Gedränge. „Für eine liberale Republik braucht man eine liberale Stimme im Bundestag“, mahnt er. Die FDP habe es nicht verdient, dass nur die letzten vier Jahre gesehen würden, und nicht „die Leistung der letzten Jahrzehnte“. Er trinkt Wasser. Sekt hat die Partei erst gar nicht geordert.
Ein kollektives Stöhnen Die erste Hochrechnung verschlägt den Liberalen die Sprache. Unter fünf Prozent. Und zwar nicht knapp, sondern deutlich. Ein kollektives Stöhnen, ein entsetztes „Nein!“ fliegt durch die Reihen. Minuten später dann das Ergebnis aus Hessen. Auch hier unter der Fünf-Prozent-Hürde. Jetzt stöhnen sie noch lauter. Als hätten sie erst jetzt verstanden, dass es kein Rechenfehler ist, sondern ein Trend. Die Wähler strafen die FDP flächendeckend ab: erst in Bayern, jetzt im Bund und in Hessen.
Den Liberalen schießen die Tränen in die Augen. „Ich bin schlichtweg geschockt“, sagt Parteimitglied Gregor Jung. Mit seinen 33 Jahren ist er nur ein paar Jahre jünger als Philipp Rösler. „Es muss jetzt was passieren“, sagt Jung. Und was? „Ei­ne absolute Neuausrichtung.“ Und wohin? „Das weiß ich, ehrlich gesagt auch nicht.“ Mechthild Roth da­gegen schon. Die 87-jährige Juristin ist extra aus Detmold zur Wahlparty nach Berlin gefahren. Seit 50 Jahren ist sie in der FDP, sozial-liberaler Flügel. Sie weint nicht. Sie hat es kommen sehen: „Die FDP hat zu sehr auf das Thema Steuern gesetzt und zu wenig auf Soziales.“ Und nun? „Die FDP ist gewöhnt, dass sie mal gewinnt und mal verliert. Beim nächsten Mal sollten sie mehr Frauen aufstellen.“ Da hinke die FDP den anderen Parteien hinterher. Roth zuckt die Achseln. „Aber das war immer schon so.“
„Es ist nicht das Ende der Partei“, sagt Rainer Brüderle, der gescheiterte Spitzenkandidat. Parteichef Rösler findet Trost ausgerechnet bei der Konkurrenz: „Die SPD hat in schwierigen Zeiten nie aufgehört zu kämpfen. Das imponiert.“ Röslers Frau Wiebke, im kanariengelben Shirt, legt ihm den Arm um die Schulter, auch Brüderle sucht Körperkontakt. Mit 45 Jahren, das hat Rösler mal gesagt, wolle er mit der Politik Schluss machen. Jetzt ist er 40 und steht bestürzt vor dem liberalen Scherbenhaufen. Ein rührendes, ein tragisches Bild.
Parteivize Christian Lindner guckt sich das kurz an, stößt dann seinen nordrhein-westfälischen Landsmann Daniel Bahr an und verlässt als erster das Gruppenbild der Wahlverlierer. Lindner, der Jüngste an der FDP-Spitze, der Hoffnungsträger aus NRW, wird wohl den Neuanfang stemmen müssen.



SPD hatte insgeheim mehr erwartet

Enttäuschte Genossen haben das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Kleiner Parteitag soll mit der Basis die Marschroute beraten. Peer Steinbrück will weiter an Deck bleiben

Von Christian Kerl Berlin. Das Ergebnis für die SPD ist enttäuschend, nur die Aussicht auf eine mögliche Regierungsbeteiligung bewahrt die Parteispitze zunächst vor größerer Tristesse – und einer Führungskrise. „Ja wir haben zugelegt“, ruft SPD-Chef Sigmar Gabriel im überfüllten Willy-Brandt-Haus, „aber wir haben uns mehr erwartet.“ Der Beifall ist freundlich, mehr nicht.
Sicher, Schwarz-Gelb ist weg, aber die SPD hat das zweitschlechteste Ergebnis ihrer bundesdeutschen Geschichte eingefahren, der Abstand zur Union hat sich noch einmal vergrößert, selbst der engagierte Endspurt hat nichts mehr gebracht. Trotzdem ruft Gabriel dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück nun zu: „Du bist ein Pfundskerl. Du hast einen fantastischen Wahlkampf gemacht.“ Ein paar Genossen rufen sogar: „Danke Peer“.
Steinbrück lächelt dankbar, er ist sichtlich froh, diesen holprigen Wahlkampf endlich hinter sich zu haben. Steinbrück ist es aber auch, nicht Parteichef Gabriel, der schnell vorausblickt und schnell auf die heikle Koalitionsfrage zielt: „Der Ball liegt im Spielfeld von Frau Merkel – sie muss eine Mehrheit besorgen.“ Der gescheiterte Kanzlerkandidat mahnt seine Partei, jetzt „keine Spielchen“ zu machen – Maßstab müsse eine ökonomische, vernünftige und gerechte Politik sein.
Rot-Rot-Grün ist ausgeschlossen Die Botschaft, zuvor abgesprochen im Parteivorstand, ist klar: Ein Koalitionsangebot an die Union wird die SPD von sich aus nicht machen. Aber Rot-Rot-Grün, auch wenn es am Ende des unübersichtlichen Wahlabends rechnerisch möglich wäre, ist ausgeschlossen. „Das wäre heller Wahnsinn, weil eine Mehrheit viel zu knapp und wacklig wäre“, sagt ein Spitzenmann. Die Große Koalition scheint den Genossen möglich, aufdrängen aber wird sich die SPD nicht – sie will gebeten werden und dann, trotz des schwachen Abschneidens, den Preis so hoch wie möglich treiben. Denn während die Spitzenleute sich auf ein Bündnis mit der Union schon lange einstellen, ist die Neuauflage dieser Koalition an der Basis höchst umstritten; auch in den Ländern gibt es Vorbehalte, in Berlin könnte Rot-Grün in den Ländern schaden. „Auf keinen Fall darf der Eindruck von Hinterzimmer-Entscheidungen entstehen“, heißt es in der Parteiführung. Bei einem kleinen Parteitag am Freitag soll deshalb mit der Basis über die Marschroute beraten werden – auch die von einigen befürwortete Alternative, im Zweifel lieber kraftvolle Opposition gegen Schwarz-Grün zu machen. Die Parteilinke will am Freitag zudem den Antrag stellen, dass ein möglicher Koalitionsvertrag per Mitgliederentscheid abgesegnet werden muss. Klar ist, dass Bedingungen für Schwarz-Rot gestellt würden: Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Mindestlohn, Solidarrente – unerfüllbar sind diese Forderungen nicht. Sechs Minister würde die SPD wohl fordern. Aber wer ins Kabinett rücken würde, das ist einstweilen offen.
Spekulationen unter Genossen Als wahrscheinliches Szenario gilt zwar, dass Parteichef Gabriel als Vizekanzler ins Kabinett geht, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier würde auf eigenen Wunsch sein Amt behalten. Peer Steinbrück bekräftigte gestern, er werde einem Merkel-Kabinett auf keinen Fall angehören. Aber, versprach er: Er werde „an Deck bleiben“ und „Verantwortung übernehmen“ – ob das nur für die Koalitionsverhandlungen gilt oder ob Steinbrück womöglich Ambitionen auf den Fraktionsvorsitz hat, wird unter Genossen bereits spekuliert.



Grünen hadern mit dem Spitzen-Duo

Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt stehen wegen Wahlniederlage schwere Zeiten bevor. Steuerpläne und Pädophilendebatte kosteten Sympathien

Von Daniel Freudenreich Berlin. Es ist ein bitterer Gang für Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin. Konsterniert betreten die beiden grünen Spitzenkandidaten die Bühne. Kurzes Winken, knapper Applaus der Basis, dann redet Göring-Eckardt Klartext: „Wir haben unsere Ziele nicht erreicht“, sagt die Spitzengrüne, fordert eine „sehr ehrliche und klare Analyse“ und prophezeit: „Das wird eine schwere Zeit für uns.“
Schwere Schlappe Wohl wahr. Denn das Ergebnis der Bundestagswahl ist für die Grünen eine brutale Schlappe. Als ge­gen 18 Uhr die erste Prognose über die Leinwand flimmert, brandet in der Columbiahalle nur einmal Jubel auf: über das Debakel der FDP. Dann das eigene Ergebnis: 8,0 Prozent. Stöhnen, ein kollektives Oje und Schweigen.
Mit solch einer Klatsche hätte bis vor kurzem niemand gerechnet – nach den Höhenflügen der vergangenen Jahre. Dank Fukushima waren die Grünen 2011 in den Umfragen auf bis zu 28 Prozent empor geschnellt. Von der neuen Volkspartei war die Rede. Ein besseres Ergebnis als bei der Bundestagswahl 2009 mit 10,7 Prozent schien eine Formsache zu sein. Pustekuchen! Denn mit dem Parteitag Ende April rückten die Steuerpläne in den Mittelpunkt. Von da an mussten die Grünen gegen Vorwürfe ankämpfen, wonach sie den Mittelstand schröpfen.
Heute ist klar, dass sie mit ihren Steuerplänen auf das falsche Pferd gesetzt haben. Man habe im Wahlkampf Klimaschutz und Energiewende „nicht ausreichend“ nach vorn gestellt, sagt NRW-Grünenchef Sven Lehmann dieser Zeitung. Die Pädophilendebatte und die Forderung nach einem „Veggie Day“ in Kantinen kosteten weitere Sympathien.
Nun sind die Grünen auf dem Boden der Tatsachen angekommen. „Das ist eine herbe Niederlage“, sagt Tübingens Oberbürgermeister und Realo Boris Palmer dieser Zeitung. „Wir sollten die Ur­sachen nicht bei anderen suchen, sondern bei uns selbst.“
Parteichefin Claudia Roth kündigt „Konsequenzen“ an, während Co-Chef Cem Özdemir sich am frühen Abend noch an den Strohhalm klammert, der Union möge es doch nicht zur Alleinregierung reichen. Mit wem an Bord die Kanzlerin regieren sollte, lässt Özdemir offen. Vielleicht mit den Grünen? Bei Sondierungen sei man „immer dabei“, meint Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kurz nach sechs Uhr.
Streit um den Kurs Die Grünen stehen nun vor ei­nem grundlegenden Umbruch und einer heftigen Strategiedebatte. Da­bei geht es um die Frage, wie sie es in Zukunft mit Schwarz-Grün halten und ob sie sich wieder stärker in die Mitte bewegen. Hier dürfte der Realoflügel Morgenluft wittern, der die umstrittenen Steuerpläne und den Linksruck der Partei teils zähneknirschend mitgetragen hat. Die Positionierung der Ökopartei geht vor allem auf das Konto von Trittin, der nun massiv im Kreuzfeuer der Kritik stehen wird. Bis vor kurzem war der Ex-Umweltminister der mächtigste Grüne seit Joschka Fischer und peilte den Vizekanzler und das Finanzministerium an. Nun droht dem 59-Jährigen als Fraktionschef das Aus.
Vom linken Flügel könnte ihn der Finanzfachmann Gerhard Schick oder der Verkehrspolitiker Anton Hofreiter beerben. Co-Chefin Renate Künast könnte für Göring-Eckardt, der der Wind ebenfalls rau ins Gesicht blasen dürfte, Platz machen oder für Wirtschaftsexpertin Kerstin Andreae.
Trittin selbst fasst sich kurz. Man werde sich gemeinsam der bitteren Realität stellen. Erneut verteidigt er das Steuerkonzept. Dürftiger Applaus. Am Ende dankt Özdemir dem Spitzenduo reichlich schmallippig für einen „engagierten Wahlkampf“. Rückhalt klingt anders.


Linke sieht trotz Verlusten Grund zum Feiern

Unter ihrem Spitzenkandidaten Gysi könnte die Partei drittstärkste Kraft im Bundestag werden

Berlin. Jubel gibt es bei der Wahlparty der Linken zunächst vor allem über das schlechte Ergebnis der FDP. Als der tiefrote Balken der eigenen Partei in der ersten Hochrechnung nur auf 8,3 Prozent steigt, bleibt es im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei eher still. Viele hatten nach den letzten Umfragen gehofft, dass doch noch die von Spitzenkandidat Gregor Gysi ausgegebene Zielmarke von zehn Prozent erreicht werden könnte.
Für die Parteiführung ist trotzdem klar, dass es Grund zum Feiern gibt. Das liegt vor allem daran, dass die Linke erstmals drittstärkste Kraft im Bundestag werden kann – vor den Grünen. „Wer hätte vor wenigen Monaten gedacht, dass wir uns mit den Grünen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern“, sagt Parteichef Bernd Riexinger. Die Co-Vorsitzende Katja Kipping spricht von einem „ganz großartigen Tag für die Linke“.
Und spätestens als Gysi auf die Bühne tritt und das Ergebnis als Erfolg wertet, glaubt es auch das Publikum und dankt es dem Spitzenkandidaten mit lauten „Gregor, Gregor“-Sprechchören. „Ich glaube wir haben einen beachtlichen Akzeptanzschub erreicht“, sagt er. Es dürfe gefeiert werden.
Würde man das letzte Wahler­gebnis als Maßstab nehmen, hätte die Linke eigentlich wenig zu feiern. Damals kam die gerade aus der westdeutschen WASG und der ostdeutschen Linkspartei/PDS neugegründete Partei mit Gysi und Oskar Lafontaine an der Spitze auf Anhieb auf 11,9 Prozent. Es folgte eine Zeit der Streitereien, die die Partei an den Rand des Abgrunds brachte. Der Tiefpunkt war der Göttinger Parteitag im Mai 2012, bei dem Gysi in seiner berühmt-berüchtigten „Hass“-Rede vor einer Spaltung warnte. Damals bangten viele Delegierte um den Wiedereinzug in den Bundestag. Das neue Führungsduo Kipping und Riexinger brachte wieder Ruhe und die Wende in den Umfragen.
Dass es jetzt mehr als acht Prozent wurden, kann aber vor allem Gysi für sich verbuchen. Der 65-Jährige hat in seinem vielleicht letzten Bundestagswahlkampf alles gegeben. Die anderen sieben Spitzenkandidaten blieben in seinem Schatten. Selbst Sahra Wagenknecht konnte mit der Präsenz des Fraktionschefs nicht mithalten.
Das Wahlergebnis wird den Fraktionschef auch innerparteilich stärken. In der neuen Wahlperiode wird es darum gehen, wer das Erbe von Gysi und Lafontaine in der Linken antritt. dpa


Bernd Luckes AfD will „die anderen das Fürchten lehren“

Die Anti-Euro-Partei hat vor allem im Lager der Nichtwähler gefischt. Das Problem: Auch Rechtsextreme laufen ihr zu

Von Dietmar Seher Berlin. „Wir haben die anderen ­Par­teien das Fürchten gelehrt.“ Bernd Lucke hat den Satz nicht ­lange nach den ersten Hochrechnungen an diesem Sonntag gesagt. Dann blieb seine „Alternative für Deutschland“ erst einmal bei 4,9 Prozent stehen. Doch sieben Mo­nate nach der AfD-Gründung hat die Anti-Euro-Partei die Schwelle zum Einzug in den Bundestag berührt – und damit Deutschlands Parteienformation heftig aufgemischt.
Anti-Euro-Partei? Ist sie allein das? Lucke, 50-jähriger Wirtschaftswissenschaftler aus Hamburg, früher Berater der Weltbank und lange Jahrzehnte CDU-Mitglied, konzentriert sein politisches Programm ­zu­nächst auf einen Satz: „Wir wollen den Euro als Währung ablösen. Er spaltet Europa, statt seine Einigung voranzubringen.“
Der Euro, seine Rettungsschirme, die aus AfD-Sicht drohende „Schulden-Union“ – es sind die vorrangigen Themen und teils ihr Alleinstellungsmerkmal. Doch darüber hinaus bietet die Neugründung, die eigentlich erst 2014 fürs Europaparlament kandidieren wollte, wenig an Fixpunkten. Auf acht Seiten hat sie ihr Programm zusammengeschrieben, das man, vorsichtig formuliert, auch konservativ nennen könnte mit neoliberalen ­Flecken. Alexander Gauland, Spitzenkandidat in Brandenburg, hat das am Wahlabend so zusammengefasst: „Wir sind die Erben der FDP.“ Tatsächlich hat die AfD nach ­ersten Analysen vor allem im Lager bisheriger Nichtwähler fischen ­können. 26 Prozent ihrer Stimmen lockte sie hier an. Weitere 22 Prozent kamen von der Union und je 12 Prozent von FDP und SPD, haben die Wahlforscher ermittelt.
Zusammengebaut ist die Alternative, deren Führungspersonal sich of­fenbar erst bei den verschiedenen Wahlfeten ­richtig kennengelernt hat, aber aus noch unterschiedlicheren Lagern: Dem der euroskep­ti­sch­en Wirtschaftsexperten wie ­Lucke und Hans-Olaf Henkel, mit der Politik Unzufriedenen, die glauben, „dass es so nicht mehr weitergeht“ und am Ende auch Protestwählern, die dem rechten Spektrum zuneigen. In Ostdeutschland wurde festgestellt, dass wohl ganze Orts­ver­bände der rechtsextremen Partei „Die Freiheit“ zur AfD gewechselt sind – eine Entwicklung, die auch Lucke bisher nicht gestoppt hat.
Für die Union könnte jetzt ein ­Effekt eintreten, der der SPD mit dem Aufkommen von Grünen und Linken schon lange Prozente kostet: Eine Konkurrenz vor der eigenen Haustür, die zudem noch das ­Ko­a­lieren schwerer macht.

 (Alle Quellen WR vom 23.09.2013)

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